Wissen über intuitives manuelles Behandeln

Körper, Leib und Tastwelt in der Osteopathie

Ausschnitt von einem paar weibliche Hände die auf den Schultern einer anderen Frau ruhen und diese Palpieren. Leib und Tastwelt in der Osteopathie sind komplexe Felder die wir noch mehr erforschen müssen.

Ein philosophischer Blick auf die Kunst des Fühlens in der Osteopathie. In der osteopathischen Ausbildung kommt irgendwann der Punkt, an dem spürbar wird: Der Körper allein erklärt nicht alles. Beim Palpieren – also dem achtsamen Tasten mit den Händen – erleben viele Auszubildende Phänomene, die sich mit reiner Anatomie nicht erfassen lassen. Es fühlt sich an, als sei da „mehr“. Dies wirft auch Fragen zur Leib und Tastwelt in der Osteopathie auf. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick in die phänomenologische Philosophie, genauer: auf den Begriff „Leib“. Denn wer ganzheitlich behandelt, sollte auch ganzheitlich denken – und das schließt die Verbindung von Körper, Wahrnehmung und Erfahrung mit ein.

Der Leib ist nicht gleichzusetzen mit dem Körper. Der Körper ist das, was wir objektiv sehen, messen und analysieren können: Knochen, Muskeln, Organe. Der Leib dagegen ist unsere gelebte, subjektive Erfahrung – unser Spüren, Handeln und Wahrnehmen in der Welt. Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty prägte diesen Begriff maßgeblich. Für ihn ist der Leib das erlebende Subjekt: Das, was uns mit der Welt in Verbindung bringt – nicht als Denkmodell, sondern als gelebte Realität. Der Leib ist das, was sich zwischen Wahrnehmung, Bewegung und Bewusstsein bildet.

Um die osteopathische Arbeit besser zu verstehen, lohnt sich folgende Differenzierung:

  • Körper = Physikalische Materie, biologische Struktur
  • Leib = Subjektive Erfahrung, fühlendes Ich
  • Leibkörper = Einheit aus beidem: Der Körper in seiner erlebten Dimension

Der Begriff Leibkörper beschreibt also das Zusammenspiel von spürbarer Anatomie und innerer Wahrnehmung – und ist besonders relevant für manuelle, berührungsbasierte Therapieformen wie die Osteopathie.

Palpation ist das zentrale Werkzeug in der Osteopathie. Es geht darum, durch Berührung Spannungen, Bewegungen und Gewebezustände zu erkennen – nicht nur oberflächlich, sondern in der Tiefe. Mit zunehmender Erfahrung spüren viele Behandler*innen Dinge, die sich kaum in Worte fassen lassen:

  • Ein „Sog“ im Gewebe
  • Ein „Fluss“, der sich verändert
  • Eine Spannung, die nicht nur muskulär ist

Diese Erfahrungen deuten darauf hin, dass mehr als nur physikalische Information ausgetauscht wird.

Der Osteopath und Philosoph Albrecht Kaiser beschreibt dieses Phänomen als osteopathische Tastwelt. Sie beginnt mit der Berührung (Palpation) und endet mit dem Lösen der Hände. Innerhalb dieses Zwischenraums entsteht ein besonderer Zustand: Eine Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen, bei der nicht nur körperliche, sondern auch leibliche Informationen übermittelt werden.

Besonders spannend ist dabei der Begriff der „scharfen Stelle“ – ein Punkt, an dem die Wahrnehmung maximal differenziert ist. Man spürt ganz klar, wo das Eigene aufhört und das Fremde beginnt. Genau dort entsteht eine besondere therapeutische Qualität: offen, verbunden, aber nicht verwischt.

Die Idee des Leibes und der Tastwelt bringt eine neue Tiefe in die osteopathische Praxis. Sie eröffnet die Möglichkeit, das scheinbar „Unfassbare“ in Worte zu fassen – ohne ins Esoterische abzugleiten. Denn:

  • Sie erklärt, warum sich Berührung manchmal so anders anfühlt
  • Sie zeigt, warum manche Behandlungen tief wirken, obwohl kaum „gemacht“ wurde
  • Sie verbindet die Osteopathie mit einem bewussten, reflektierten Menschenbild

Der Leibbegriff hilft dabei, osteopathische Erfahrungen besser einzuordnen – gerade wenn Worte fehlen. Und er erinnert uns daran, was osteopathische Arbeit im Kern ausmacht:

Nicht der Körper allein steht im Fokus – sondern der Mensch in seiner Ganzheit. Die Verbindung von Leib, Körper und Tastwelt zeigt, dass manuelle Therapie nicht nur Technik ist, sondern Beziehung – und dass in jeder Berührung ein Stück Weltverstehen liegt.



Quellenverzeichnis:

Fuchs, Thomas. 2015. Die gegenwärtige Bedeutung der Phänomenologie. In: Information Philosophie. Ausgabe 3/2015. S. 8-19.

Fuchs, Thomas. 2015. Körper haben oder Leib sein. In: Gesprächspsychotherapie und personenzentrierte Beratung. Ausgabe 3/2015. S. 147-153. 

Fuchs, Thomas. 2013. Zwischen Leib und Körper. In: M. Hähnen und M. Knaup (Hrsg). Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit. S. 83-93. Darmstadt: WBG.

Kaiser, Albrecht. 2022. Im Zwischen – eine am Leib orientierte osteopathische Besprechung. In: DO-Deutsche Zeitschrift für Osteopathie. Ausgabe 20/2022. S. 46-51.

Kaiser, Albrecht. 2018. Die Wirklichkeit der Osteopathie. Studie zu einer am Leib orientierten Anthropologie. Berlin: Peter Lang.

Merleau-Ponty, Maurice und Böhm, Rudolf. 1974. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter.

Slatman, Jenny. 2019. The Körper-Leib distinction. In: A. Murphy, G. Salamon und C. Weiss (Hrsg.). 50 Concepts for a Critical Phenomenology. S. 203-209. Evanston: Northern University Press.

Springstübe, Darja. 2013. Über Wahrnehmung und Ausdruck in der Philosophie Maurice Merleau-Ponty. Berlin: Logos Verlag.


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